Cover
Titel
Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900


Autor(en)
Leyrer, Anna
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hanna Hacker, Institut für Soziologie, Universität Wien

Das Fin de Siècle 1900 gilt als „heißer“ Ort in der Historiografie von Freundschaften und Beziehungen unter Frauen. Forschungsarbeiten der Frauen- und Geschlechtergeschichte fokussieren hier die Bedeutung der Frauenbewegungen und der Sexualwissenschaften, die historische „Erfindung“ und Pathologisierung nicht-normativer geschlechtlicher Identitäten, die Figuration der „spinster“ ebenso wie die der sexuell autonom begehrenden „Neuen Frau“.1 Intersektionelle Perspektiven, queere Theorieansätze, Affektstudien, auch postkoloniale Kritik fließen in den letzten Jahren in diese Forschungen mit ein.2 Vor diesem Hintergrund legt nun Anna Leyrer ihre bei Caroline Arni (Basel) und Maren Möhring (Leipzig) verfasste Dissertation mit dem nicht unbescheidenen Titel „Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900“ vor.

Ihr Anliegen ist es, Freundschaft theoretisch so zu positionieren, dass sie nicht implizit Konzepte von „Männerfreundschaft“ voraussetzt, sondern die Figur der Freundin als diskursiven (und historischen) Ort begreifbar macht. „Die Freundin ist die Unzugehörige und Ungehörige der Freundschaft“ (S. 9); in dieser Perspektive befragt Leyrer Freundschaftsbeziehungen von Frauen um 1900. Für die Entfaltung ihrer Argumentation nutzt sie eine üppige Menge an kultur- und sozialwissenschaftlichen Literaturbezügen, von historischen Autor:innen wie Nietzsche, Simmel, Freud oder de Sade bis zu rezenteren großen Namen der Freundschafts-, Liebes- und Beziehungstheoreme und der (mikro-)historischen Annäherung, etwa Derrida, Barthes, Deleuze/Guattari, Luhmann, Rancière, Arendt, Irigaray, Butler und andere. Gleich anfangs betont Leyrer, es gebe den Biografien „wenig oder nichts hinzuzufügen“, was Erkenntnisgewinn brächte, zumal „über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte Rezeptionsgeschichte hinweg immer wieder ähnliche Geschichten“ erzählt würden. Statt die Texte der gewählten Autorinnen „auf bisher Verborgenes abzuklopfen“, orientiere ihre Lektüre sich daran, „auf das Mitreißende zu hören“ (S. 17); „auf das, was Resonanz erzeugt“ (S. 18).

Als Quellen fungieren der bislang nur teilweise bearbeitete Briefwechsel von Lou Andreas-Salomé mit Frieda von Bülow, Ellen Key und Anna Freud sowie ausgewählte Publikationen dieser Autorinnen. Im Kontext der Frauen- und Geschlechtergeschichte, auch der Literatur- und Psychoanalysegeschichte zum Zeitraum um 1900 gelten diese vier Autorinnen als vergleichsweise namhaft. Die adelige Schriftstellerin Frieda von Bülow (1857–1909) engagierte sich für eine Beteiligung von Frauen in der deutschen Kolonialpolitik; Ellen Key (1849–1926) erfuhr als schwedische Essayistin intensive Rezeption in den geschlechterpolitischen Debatten im deutschsprachigen Raum; Anna Freud (1895–1982) war österreichisch-britische Psychoanalytikerin. Zentral setzt Leyrer in ihrer Studie Lou Andreas-Salomé (1861–1937), in Russland aufgewachsene Schriftstellerin und Analytikerin, die oftmals vor allem durch ihre Beziehungskonstellation mit Friedrich Nietzsche und Paul Rée wie auch durch ihre Analyse bei und berufliche Beziehung zu Sigmund Freud bekannt erscheint.

Das erste der drei großen Kapitel, „Politik der Freundin“, widmet sich Korrespondenzen und weiteren Schriften von Lou Andreas-Salomé und Frieda von Bülow, die sich in den 1890er-Jahren in Berlin anfreundeten. Unter Referenz auf die grundlegende Bedeutung des Gleichheitsbegriffs für die Moderne und auf Joan Scotts prominenten Befund des paradoxalen Verhältnisses von Feminismus und Gleichheit3 diskutiert Leyrer hier die sehr unterschiedlichen Argumentationen der beiden Freundinnen zu geschlechtlicher Differenz, Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit. „Mit der Freundin lässt sich die feministische Frage nach der Gleichheit neu stellen und, vielleicht, neu beantworten“ (S. 24). Das Weibliche im Verhältnis zu Natur, Leben und Lebendigkeit bildete eine der Reflexionsachsen von Lou Andreas-Salomé. „Post Nietzsche“, wie Leyrer es formuliert, strukturierten Kontroversen zu Moral und Dekadenz und mit ihnen die physiologische Verfassung, also „Lebensbereicherung“ oder „Lebensbeschränkung“, ihre Freundschaft. Frieda von Bülow fand reiche Kräftigung und Aufmunterung in ihren Aufenthalten in den deutschen Kolonien in Afrika.

Der zweite Abschnitt des Buches, „Zärtliche Freundinnen“, thematisiert Aspekte der erotischen Bezogenheit unter (schreibenden) Frauen am Beispiel der Verbindungen zwischen Lou Andreas-Salomé und Ellen Key. Auch diese beiden begegneten sich in Berlin in frauenbewegten Kreisen und traten dann in langjährigen intensiven Austausch. Dabei ging es (unter anderem) um Konzepte von Erotik, wie sie Salomé in „Die Erotik“ (1910) und Key in ihrem Buch „Über Liebe und Ehe“ (1905) ausarbeiteten. Leyrer resümiert in diesem Kapitel Analyseansätze zu Freundinnenbindungen und gleichgeschlechtlichem Begehren in der Historiografie weiblicher Homosexualitäten sowie die in der feministischen Forschung kontrovers debattierte „geistige Mütterlichkeit“ als politisches Programm der gemäßigten Frauenbewegung vor (und nach) 1933. Mütterlichkeit und Erotik verbänden sich im Schreiben von Andreas-Salomé und Key; aus ihren Briefen spreche wechselseitige Zärtlichkeit, ein „erotischer Affekt“. Zeitweise nahmen sie eine dritte Figur in ihre Beziehung auf, adressiert als „Fortunata“, die nirgendwo genauer spezifiziert wird, auch nicht von Leyrer selbst, und wohl eine Phantasie bezeichnen könnte, erotische Energie, körperliche Erfahrung, möglicherweise eine reale Gestalt. Gesellschaft, so eine wichtige Schlussfolgerung, beginnt für diese Autorinnen wie vielleicht generell für Feministinnen um 1900 mit der Zweierbeziehung Mutter-Kind, nicht mit der heterosexuellen Zweierbeziehung.

Das dritte Kapitel, „Die Schwester, der Freundschaftstraum“, behandelt die freundschaftliche Beziehung von Lou Andreas-Salomé mit Anna Freud. Der engere Kontakt der zwei Frauen begann um 1920, als Anna Freud den Rat einer erfahrenen Schriftstellerin suchte. Leyrer kombiniert hier Überlegungen zur „psychoanalytischen Familie“ und zum Topos der Schwester mit dem zwischen den beiden Freundinnen wiederkehrenden Motiv des Traumes, der erträumten innigen Verbindung. Lesen, Schreiben und das gemeinsame Träumen verquickten sich, Tagträume waren ein Grund für Anna Freuds Analyse bei ihrem Vater. Als schwesterliche Formation setzten sie sich mit Autorinnenschaft im fiktionalen Schreiben auseinander, da auch Anna Freud Prosa verfasste, ehe sie sich gegen das Ringen um „Heinrich Mühsam“ entschied – eine literarische Schöpfung, die ihr nicht gelingen wollte. Verwoben mit der Schwesterbeziehung erscheint die Praxis des „Bestrickens“. Anna Freud fertigte für ihre Freundin vielerlei Häkel- und Strickarbeiten an und vermochte so, mit ihrer Textur an die Haut der anderen zu rühren.

Insgesamt bietet das Buch eine Überfülle an Assoziationen und lässt doch inhaltlich einiges vermissen. Bei aller interpretierender Präsentation bietet es kaum prägnantere Informationen zu den ausgewählten Akteurinnen. Wer über deren historische Verortung und politische und persönliche Handlungsstrategien, die ja nicht im Nietzsche-Lesen und Texteschreiben aufgingen, vor der Lektüre dieser Studie nicht schon recht genau Bescheid weiß, wird sehr ausgiebig auf eigene Recherchen angewiesen sein. Eine (etwaige) Kritik an den Positionen der diskutierten Autorinnen wiederum ist gar kein Anliegen der Autorin. Dies irritiert insbesondere da, wo es um Fragen des Engagements im kolonialen Projekt etwa bei Frieda von Bülow geht, und bei Entwürfen von Mütterlichkeit, deren Nähe zu faschistischen und nationalsozialistischen Ideologemen genauer zu problematisieren wäre.

Hinsichtlich des Texttypus handelt es sich weit eher um mehrere, lose verbundene Essays denn um eine geschlossene akademische Abschlussarbeit. Leyrer formuliert oft Ad-hoc-Interpretationen, die nicht immer leicht nachzuvollziehen sind; die punktuell anmutenden Befunde werden insgesamt recht wenig aufeinander bezogen und nicht so zusammengeführt, wie die Leser:in es sich vielleicht wünschte. Dies ergibt aber zugleich eine durchaus mitreißende, gleichsam kaleidoskopische Lektüre. Der Text hat Spielerisches, Experimentelles an sich; wir werden gleichsam Zeug:innen eines Freewritings auf dem sehr hohen Niveau einer äußerst belesenen, theoriekompetenten Autorin. Zudem liegt in Leyrers Duktus ein mimetisches Moment. Sie schreibt „fast wie“ die historischen Texte, auf die sie sich bezieht, auch dort, wo es nicht mehr um eine unmittelbare Paraphrase geht. Durchgängig im Präsens erzählend, wiederholt sie ein wenig altertümelnd und/oder ironisch die Wendungen der Philosophie, der Psychoanalyse und der Literatur des Fin de Siècle. So ermöglicht Leyrers „Die Freundin“ auf jeden Fall eine außergewöhnliche Leseerfahrung.

Anmerkungen:
1 Zu den „Klassikerinnen“ zählen hier v.a.: Marie-Jo Bonnet, Un choix sans équivoque. Recherches historiques sur les relations amoureuses entre les femmes XVIe–XXe siècle, Paris 1981; Lillian Faderman, Surpassing the Love of Men. Romantic Friendship and Love between Women from the Renaissance to the Present, London 1981; Esther Newton, The Mythic Mannish Lesbian. Radclyffe Hall and the New Woman, in: Signs, 9, 4 (1984), S. 557–575.
2 Vgl. Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“, Österreich 1870–1938, Wien 2015.
3 Vgl. Joan W. Scott, Only Pradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Cambridge 1996.